Keynote unseres Vorstandsvorsitzender Peter H. Ganten anlässlich der OPEN! 2015 – Konferenz für digitale Innovationen im Dezember 2015

Seit mehr als 10 Jahren hat die Open Source Business Alliance, bzw. einer ihrer beiden Vorgängervereine ihren Sitz hier in Stuttgart. Und seit ebenfalls mehr als 10 Jahre lässt sie ihre Geschäftsstelle von der MFG Innovationsagentur Medien- und Kreativwirtschaft, der Veranstalterin des heutigen Tages, betreiben. Mit sehr großer Zufriedenheit und Dankbarkeit für ständigen, unermüdlichen Einsatz, wie ich hinzufügen möchte.

Aber – und das sage ich als geborener und eingefleischter Norddeutscher genauso wie als Vorstandsvorsitzender der Open Source Business Alliance – das ist natürlich nicht der einzige Grund, warum wir uns an genau diesem Standort so wohl fühlen: Stuttgart ist Mittelpunkt eines auch in der Informationstechnologie in Deutschland und Europa führenden Kompetenz- und Innovationszentrums.

Mehr als 6.000 meist mittelständische IT-Unternehmen sind in der Region Stuttgart entstanden. Und das besonders spannende an der Informationstechnologie eigentlich im ganzen Land Baden-Württemberg ist der einzigartige, hohe Grad von Vernetzung mit industrieller Hochtechnologie etwa im Bereich der Automobilindustrie. Diese Verzahnung der IT mit dem bewährten „German Mittelstand“ und mit Großunternehmen bedeutet eine besondere Chance für die IT-Industrie und viele weitere Branchen nicht nur hier sondern in Deutschland und Europa insgesamt, wie ich im Folgenden kurz ausführen möchte.

Meine Damen und Herren, der von Clayton Christensen geprägte und mittlerweile etwas, wenn ich es so sagen darf, ausgelatschte, Begriff der disruptiven Innovation beschreibt Erfindungen, die sich oft zunächst in kleinen, von etablierten Anbietern wenig beachteten Nischen, mit vergleichsweise niedrigerem Preis- oder Leistungsniveau entwickeln, um dann – wenn es für die traditionellen Anbieter schon zu spät ist – plötzlich eine bessere, flexiblere oder kostengünstigere Alternative zu den Angeboten der vorher marktbeherrschenden Unternehmen zu sein. Diese können dann nicht mehr reagieren, haben keine Möglichkeit ihre Angebots- und Kostenstrukturen schnell genug zu verändern, werden Objekte von Übernahmen oder hören ganz auf, zu existieren.

Viele dieser disruptiven Veränderungen haben sich in den letzten Jahren in der Informationstechnologie abgespielt: Der Personal Computer hat die klassischen Mainframes und Workstations abgelöst. Das Open Source Betriebssystem Linux hat die klassischen UNIX-Systeme abgelöst und Cloud Computing ist dabei den klassischen Rechenzentrumsbetrieb in Unternehmen abzulösen. Diese Liste ließe sich noch lange fortsetzen.

Neben den disruptiven Veränderungen innerhalb der IT-Industrie selbst ist Informationstechnologie seit längerem aber auch einer der wichtigsten Treiber für Disruption in anderen Branchen: Wikipedia, eine im Kern technische Erfindung, hat das Schreiben von Enzyklopädien überflüssig gemacht. Amazon, im Kern ein IT-Unternehmen, hat erst den Buchhandel und mittlerweile viele weitere Bereiche des stationären Handels massiv herausgefordert und sich vielerorts bereits durchgesetzt. AirBNB bedroht das Hotelgewerbe und – ich weiß nicht, weiß nicht, wie es bei Ihnen ist, dort wo ich wohne, gibt es mittlerweile keine Videotheken mehr, weil Netflix, Youtube und ein paar halb-legale Anbieter sie ins Museum geschickt haben.

Es ist kein Geheimnis: Viele Wirtschaftsbranchen in Deutschland und Europa müssen schauen, dass sie nicht selbst Opfer der nächsten Disruption werden: In der Zeitungs- und Verlagsbranche ist diese Entwicklung seit Jahren in Gange. Dasselbe gilt für den Handel. Aber auch die klassische, erfolgreiche, deutsche, mittelständische Industrie, wie es sie gerade hier in der Region Stuttgart besonders häufig gibt, muss sich mit Disruption beschäftigen und tut dies zum Glück oft auch schon. Das klassische Beispiel für diese Herausforderung ist das selbstfahrende Auto mit Elektroantrieb, bei dem die kaufentscheidenden Merkmale nicht mehr Fahrvergnügen, Benzinverbrauch oder auch Dinge wie Abgaswerte sind, sondern die Software und die Apps, die dafür zur Verfügung stehen.

Aber auch industrielle Fertigungsunternehmen können vor massiven disruptiven Veränderungen stehen, denn wer sagt denn, dass sich manches Bauteil oder Werkzeug zukünftig nicht auch in hoher Qualität einfach per 3D-Drucker vor Ort vom Kunden selbst ausdrucken lässt.

Disruption kann auf Dauer nicht durch Abschottung oder andere Formen von Regulierung verhindert werden. Denn Disruption schafft echten Nutzen für die Menschen. Ich finde es zum Beispiel toll, meine Weihnachtseinkäufe am Sonntagabend zu hause machen zu können, während meine Frau ‚Tatort‘ schaut. Und ich finde es super, mir eine „richtige“, preisgünstige Wohnung bei AirBNB aussuchen zu können, wenn ich für Wochen an unserem Standort in Seattle bin. Das ist tausendmal besser, als die ewig gleichen Hotelzimmer.

Der einzig dauerhaft erfolgreiche Weg mit Disruption umzugehen ist es deswegen, selber der Disruptor zu sein und zwar bevor es jemand anderes ist. Wer die Entwicklung selber vorantreibt, die eigenen Produkte durch bessere eigene Produkte überflüssig macht, wer Preise von sich aus ständig senkt, ohne vom Wettbewerb dazu gezwungen zu sein, der kann den Wandel gestalten und ihn nutzen, eigene Marktanteile deutlich zu steigern. Branchen und Industrien, die mit disruptiven Veränderungen rechnen müssen – und das sind eigentlich alle – , tun deswegen gut daran, die eigenen Produkte und Geschäftsmodelle ständig durch den Einsatz von Technologie herauszufordern.

Meine Damen und Herren, und genau dies kann doch dort am besten gelingen, wo wir eine besonders hohe Verzahnung von Hochtechnologie-orientierter Industrie mit der Informationstechnologie haben. Denn die IT ist es ja, die oft den Impuls für Disruption gibt und sie technisch erst ermöglicht. Diese Verzahnung ist einzigartig für Stuttgart und ganz Baden-Württemberg und deswegen glaube ich, dass hier ganz besondere Chancen bestehen. So, wie das Silicon Valley durch die Verzahnung von exzellenter Ausbildung, Unternehmertum und Venture Capital viele der wichtigsten IT-bezogenen Veränderungen hervorgebracht hat, so können wir hier durch die Verzahnung von industriellem Mittelstand, Informationstechnologie und Unternehmertum, das wir hier ja durchaus auch haben, zum Treiber industrieller Disruption werden. Über das Thema exzellenter Bildung müssen wir dann nochmal gesondert reden.

Neben Informationstechnologie ist Offenheit, also unser heutiges Thema, ein zentraler Aspekt bei sehr vielen disruptiven Innovationen. Wir hatten das Beispiel Wikipedia, bei der durch maximale Offenheit – jeder kann sich beteiligen – eine Enzyklopädie bisher ungeahnten Ausmaßes entstanden ist, gegen die kein kommerzieller Anbieter mehr bestehen kann.

Ähnliches gilt für Open Source Software, welche die uneingeschränkte Weiterentwicklung und Weitergabe praktisch durch Jedermann ermöglicht. Ähnlich wie bei Wikipedia sind hier durch die Mitwirkung tausender professioneller Entwickler IT-Produkte von extrem hoher Qualität entstanden, welcher die althergebrachten, geschlossenen und proprietären Systeme aus immer mehr Bereichen verdrängen. Ich hatte als Beispiel schon das Open Source Betriebssystem Linux genannt, das zunächst die früher allgegenwärtigen UNIX-Systeme verdrängt hat und nun dank Android, einer Variante von Linux, das heute am meisten eingesetzte Betriebssystem überhaupt ist. Ähnliche Beispiele lassen sich im Bereich der Server für Webanwendungen oder im Datenbankbereich benennen.

Für das dauerhafte Vorantreiben von Innovation und auch von disruptiver Innovation noch viel wichtiger ist aber der Umstand, dass durch offenes Wissen, wie wir es etwas mit Wikipedia vorfinden, durch offene Software wie Linux, aber auch durch offene Daten oder offene Bildungsressourcen ein immer größerer Pool frei verfügbaren Wissens und frei verfügbarer Technologie zu Verfügung steht, der überall auf der Welt von Jedermann genutzt werden kann, um auf dieser Basis wieder neue, potentiell disruptive Innovationen zu schaffen.

Genau dies geschieht seit Jahren und äußerst erfolgreich: Egal welche Erfolgsgeschichte des Silicon Valley man sich anschaut, ob es nun Google, Facebook, Twitter oder Amazon (ok, nicht Silicon Valley aber immerhin noch Westküste der USA) ist, sie alle setzen strategisch auf den Einsatz von Open Source Software als Basis für ihre eigenen Innovationen und Produkte. Ja, man kann sogar mit Sicherheit sagen: Unternehmen wie Google oder Facebook und die von ihnen hervorgebrachten äußerst erfolgreichen Innovationen wären gar nicht möglich gewesen, wenn diese Unternehmen nicht auf Open Source Software sondern auf proprietäre Software etwa von Microsoft oder Oracle hätten setzen müssen.

Meine Damen und Herren, wer verstanden hat, dass Open Source Software die technologische Grundlage für disruptive Innovation und neue Geschäftsmodelle ist, der wird auch nicht mehr glauben, dass Open Source Software von ein paar Enthusiasten in ihrer Freizeit entwickelt wird. Im Gegenteil: Die Entwickler, die heute an den großen Open Source Software Projekten mitwirken, tun dies zwar immer noch aus Begeisterung, sie tun es zum allergrößten Teil aber auch, weil sie von Unternehmen wie IBM, Google, Red Hat oder vielen kleinen oder mittelgroßen Softwareunternehmen, wie meinem eigenen, dafür bezahlt werden. Open Source ist also auch ein Jobmotor.

Und diese Software verändert die Arbeitswelt. Denn Offenheit als zentraler Aspekt von Innovation bezieht sich nicht nur auf offen verfügbares Wissen oder offen verfügbare Technologie. Er bezieht sich auch auf eine offene Kultur technologischer Zusammenarbeit, wie sie in erfolgreichen Open Source Projekten selbstverständlich ist. Hier wird oft über Unternehmensgrenzen hinweg ohne jede Form politischer Rücksichtnahme an der „richtigen“ technischen Lösung gearbeitet. Für die meisten Techniker ist das ein Traum. Stellen Sie sich vor: Entwickler von miteinander im Wettbewerb stehenden Unternehmen diskutieren offen miteinander, wie ein technisches Problem gelöst werden kann. Menschen, die einmal so gearbeitet haben, können sich nicht mehr vorstellen, in Unternehmen zu arbeiten, in denen sie nicht einmal dem Kollegen aus der Nachbarabteilung erzählen dürfen, woran sie arbeiten.

Diese offene Kultur bringt Ideen hervor und Ideen sind die Voraussetzung für jede Innovation. Die Verfügbarkeit offener Technologie und von offenem Wissen macht es dann möglich, Ideen auch tatsächlich umzusetzen. Wir haben fast alles dazu, was uns noch ein wenig fehlt, ist ein offenerer, selbstverständlicher Umgang mit Open Source Technologie und anderen offenen Ressourcen, so wie es im Silicon Valley längst selbstverständlich ist.

Meine Damen und Herren, in der Offenheit liegt also eine gewaltige Chance. Wir sollten sie nutzen, wir müssen sie fördern, um sie optimal nutzen zu können und wir dürfen die Nutzung offener Technologien und von offenem Wissen vor allem nicht künstlich beschränken.

Hier sind wir alle auch als Staat gefordert: Offene Innovation braucht offene Netze. Das bedeutet, dass wir uns weiterhin gegen Einschränkungen bei der Netzneutralität wenden müssen, damit Open Source Projekte und junge innovative Unternehmen nicht durch künstlicher Barrieren aufgehalten werden können.

Wir müssen den Wert von Open Source erkennen. Diese Software gibt privaten und öffentlichen Auftraggebern mehr Flexibilität, mehr Rechte und damit mehr Möglichkeiten: Warum wird dies bei öffentlichen Ausschreibungen in Deutschland nicht so wie in mittlerweile vielen anderen europäischen Ländern erkannt und berücksichtigt?

Und: Mit öffentlichem Geld geschaffene Entwicklungen sollten auch der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, so dass aufbauend darauf wieder neue Innovationen geschaffen werden können: Warum stellen staatliche Institutionen für sie geschaffene Individualentwicklungen nicht prinzipiell unter einer Open Source Lizenz der Allgemeinheit zur Verfügung?

Vor allem aber, meine Damen und Herren, dürfen wir uns in einer Phase terroristischer Bedrohungen die Offenheit nicht wieder ausreden lassen. Was wir brauchen ist Vertrauen. Dazu gehört auch Vertrauen in Technologie, die das tut, was wir wollen und nicht irgendwelche Dritten mithören lässt. Und auch hier ist die einzige Lösung Offenheit, nämlich der Einsatz von offener Software in allen kritischen Infrastrukturen. Denn nur, wenn sich Jedermann unabhängig davon überzeugen kann, dass es keine Hintertüren gibt, dann ist die Wahrscheinlichkeit am geringsten, dass es tatsächlich keine gibt. Und Sie wissen ja: Wenn es doch welche gibt, ist es nur eine Frage der Zeit, dass diese auch von nicht ganz so guten Freunden genutzt werden.

Meine Damen und Herren, Offenheit ist zentral: Für eine innovative Wirtschaft, nicht nur in der Informationstechnologie, für Kreativität und für vertrauenswürdige Infrastrukturen, die ja auch die Grundlage für eine funktionierende Wirtschaft darstellen.

Deswegen ist es von so besonderer Bedeutung, dass die MFG jetzt mit dieser Konferenz zu offener Technologie, offenem Wissen und offenen Geschäftsmodellen genau hier in Stuttgart ein Zeichen setzt und dieses wichtige Thema noch weiter in den Fokus bringt.

Für uns als Open Source Business Alliance war es überhaupt gar keine Frage, uns als Mitveranstalter an Inhalten und Planung zu beteiligen. Auch wenn – das muss man ehrlich sagen – der ganz überwiegende Teil der Arbeit natürlich bei der MFG lag.

Vor allem aber, wäre das hier ohne die Unterstützung der Landesregierung, vertreten durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, lieber Herr Walter, nicht möglich gewesen. Wie Sie sich denken können, halten wir es für ein sehr wichtiges politisches Signal und gleichzeitig eine kluge Entscheidung des Landes Baden-Württemberg, die dem Land nutzen wird.

Peter Ganten

Peter Ganten

Ich bedanke mich bei allen, die diese Konferenz möglich gemacht haben, freue mich sehr darauf und bedanke mich bei Ihnen, meine Damen und Herren, für Ihre Aufmerksamkeit.