Open-Xchange

Wenn ich einen Moment innehalte und versuche, die letzten zehn Jahre digitaler Technikgeschichte in wenigen Sätzen zusammenzufassen, bleibt Folgendes: Es gibt zwei beherrschende Systeme.

Zum einen das US-amerikanische System von Facebook und Google, das die Daten seiner Nutzer*innen sammelt, um damit Einnahmen von seinen Werbekunden zu erzielen. Und zum anderen das chinesische Sozialkreditsystem, mit dessen Hilfe die staatliche Macht erwünschtes Verhalten belohnt und unerwünschtes Verhalten bestraft.

Für das US-amerikanische System prägte Harvard-Professorin Shosanna Zuboff den Begriff des „Überwachungskapitalismus“. Das chinesische System ließe sich entsprechend als „Überwachungskommunismus“ charakterisieren.

Während das US-amerikanische System sich bereits seit einigen Jahren im Sinne der Anteilseigner von Facebook und Google bewährt hat, steht dem chinesischen System die Feuertaufe noch bevor. Aktuell werden verschiedene Systeme in Pilotregionen und -städten erprobt, um die Algorithmen zu testen und zu optimieren. Ab 2020 soll ein einheitliches Sozialkreditsystem möglichst flächendeckend ausgerollt werden.

Wer seine Rechnungen zahlt, kriegt Bonuspunkte. Wer über die Regierung lästert, hat beim Onlinedating keine Chance mehr. Natürlich treiben Einzelheiten von Chinas sozialem Bewertungssystem bei uns kalte Schauer über den Rücken. Umso überraschender erscheint es uns, dass die Mehrheit der Chinesen dem Social Scoring positiv entgegensieht und sich davon eine bessere Gesellschaft mit mehr Chancengerechtigkeit und weniger Korruption verspricht.

Geschichte und Gewohnheit

Warum reagieren wir so empfindlich, wenn staatliche Systeme unsere Privatsphäre beschneiden wollen? Die erste und spontane Antwort ist einfach: Staatliche Überwachung sind den allermeisten von uns ein Graus, weil Erzählungen oder eigenen Erfahrungen von Gestapo und NS-Zeit, Stasi und DDR-Diktatur in unserem persönlichen oder kollektiven Gedächtnis immer noch sehr präsent sind.

Doch es gibt meiner Meinung nach einen weiteren, tiefer liegenden Grund in unserer Sozialisation. Das sind die Werte des Humanismus, denen wir uns in Europa seit rund 200 Jahren verpflichtet fühlen und die das Fundament des Hauses der Europäischen Union bilden. Das Ganze lässt sich auf wenigen Seiten nachlesen in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit feiert. Getreu dem Geiste des Humanismus stellt die Europäische Union „die Person in den Mittelpunkt ihres Handelns“ und sichert jeder Person „das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten“ zu.

Allerdings ist dieses Recht auch in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlicher Aushöhlung ausgesetzt, beispielsweise durch Vorratsdatenspeicherung oder Polizeiaufgabengesetz, die mit Terrorabwehr und Kriminalitätsbekämpfung begründet wurden und stets einen weitergehenden Eingriff in die Privatsphäre legitimierten.

Umso schwerer wiegt die Frage, warum wir unsere Überzeugungen so leichtfertig über Bord werfen und freiwillig und umfassend die Datenkraken von Facebook und Google mit unseren persönlichen Vorlieben füttern. Gut möglich und doch wenig schmeichelhaft ist die Erklärung durch das „Shiny Object Syndrome“, das besagt, dass wir letztlich nur geringfügig weiterentwickelte Affen sind, die ihre Überzeugungen jederzeit für ein paar glitzernde Glasperlen über Bord werfen.

Dieser Gedanke hilft auch, zu erklären, warum im Silicon Valley die Tech-Entrepreneue ihre in aller Regel humanistischen Missionen (Google: Die Informationen dieser Welt organisieren und allgemein zugänglich und nutzbar machen; Facebook: Menschen die Möglichkeit zu geben, Gemeinschaften zu bilden und die Welt näher zusammen zu bringen) stets hinten anzustellen, wenn es gilt, ihre Shareholder kontinuierlich mit neuen Unternehmens- und Wachstumsrekorden zu beglücken – auch, wenn dafür mitunter zu fragwürdigen oder gar unlauteren Methoden gegriffen werden muss.

Der europäische Weg: Transparenz und offener Quellcode

Auch wenn der Wind derzeit heftig aus West und Ost bläst, haben wir Europäer mit der Europäischen Charta einen klaren Kompass, der die Persönlichkeitsrechte und den Schutz der Nutzer in den Mittelpunkt stellt. Wir brauchen europaweit gültige Regelungen zum Schutz der Verbraucher wie die Datenschutzgrundverordnung, die mit empfindlichen Strafen hinterlegt sind. Und wir brauchen auch in Zukunft starke Persönlichkeiten wie Margrethe Vestager, die EU-Kommissarin für Wettbewerb, die unsere Rechte auch gegenüber den Tech-Giganten aus dem Silicon Valley verteidigt.

Um unser Schicksal jedoch wieder in die eigene Hand zu nehmen, braucht es eine gemeinsame Anstrengung der europäischen Internet- und Softwareindustrie. Der Schlüssel für den Aufbau neuer, persönlichkeitsrechte-respektierender Dienste liegt in den Netzwerkprotokollen, die in den 60er und 70er Jahren definiert wurden und die bis heute die Basis für die Netzkommunikation im Internet bilden. Die Implementierungen dieser Protokolle sind kostenlos und für jedermann nutzbar, da sie in der Regel unter einer Open-Source-Lizenz stehen. Dass auch der menschengeschriebene Quellcode der Software öffentlich zugänglich ist, sorgt für Transparenz, Sicherheit und Vertrauen.

Ist das reine Phantasterei angesichts der Marktmacht des Silicon Valleys und des Netzwerkeffekts ihrer geschlossenen Anwendungen? Mitnichten! Entscheidend für den Erfolg dieser Idee sind für mich Europas Internet-, Kabel- und Telekommunikationsanbieter. Im Moment laufen sie Gefahr, zu einem austauschbaren Lieferanten zu werden, der die Internet-Infrastruktur bereitstellt – vergleichbar mit DHL, Hermes und UPS, die uns die Amazon-Pakete ins Haus bringen.

Europas Internet-Service-Provider haben mitunter jahrzehntelange Beziehungen zu mehr als 500 Millionen Kunden und wurden allesamt von der Schnelligkeit und Wucht überrascht, mit der die Entwicklungen aus dem Silicon Valley – allen voran das Smartphone mit seinen Anwendungen – zu einem integralen Bestandteil im Leben der Nutzer wurden. Es gibt erste Anzeichen, dass sie langsam ihre Ehrfurcht vor dem Silicon Valley ablegen und sich darauf besinnen, den Kampf um die Herzen und Köpfe der Kunden aufzunehmen mit attraktiven Diensten, die das Recht auf Privatsphäre und den Schutz der persönlichen Daten respektieren.

Selbst wenn es im Moment so aussieht, als lägen Deutschland und Europa im Rennen um die technologische Vorherrschaft im 21. Jahrhundert hoffnungslos zurück, so vermag der Blick in die jüngere Technikgeschichte Mut zu machen. Denn auch Henry Ford hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Quasi-Monopol bei der Herstellung von Automobilen durch die konsequente Umsetzung der Fließbandproduktion. Immerhin konnten ihm die eine Vielzahl anderer Automobilhersteller diese Position streitig machen – auch wenn es ein paar Jahrzehnte dauerte.

Der Kommentar ist ursprünglich am 27.02.2019 auf t3n erschienen: hier.