Zusammenfassung der Ergebnisse von Dr. Manuela Urban, COO des SCS Projektes der OSB Alliance
Deutschland hat großen Nachholbedarf
Eine von der EU-Kommission in Auftrag gegebene umfassende Studie belegt einen signifikanten Einfluss von Open Source auf die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen, das Wirtschaftswachstum, auf die Start-up-/KMU-Szene und die technologische Unabhängigkeit. Die EU-Kommission empfiehlt daher ihren Mitgliedsstaaten, Open Source auf allen Ebenen zu fördern. Von der Bildung über die Forschung, den öffentlichen Sektor bis hin zur Wirtschaftspolitik. Die Studie zeigt auch, dass Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen und nicht-europäischen Staaten in der Open-Source-Förderung und -Nutzung einen der hintersten Plätze einnimmt.
Die Studie des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung und des OpenForum Europe wurde von der Generaldirektion CNECT der Europäischen Kommission beauftragt und untersucht erstmals umfassend die wirtschaftlichen Auswirkungen von Open-Source-Software und -Hardware in Europa. Die damit verbundenen Strategien und Vorgehensweisen wurden anhand ökonometrischer Analysen, Fallstudien, Literaturauswertungen und Umfragen unter mehr als 900 Unternehmen und Entwickler:innen untersucht. Ferner wird die Wirksamkeit staatlichen Handelns in Bezug auf Open Source (OS) beleuchtet. Die Studie formuliert aus den Erkenntnissen auch konkrete Politik-Empfehlungen an die EU-Mitgliedsstaaten.
Die wesentlichen Ergebnisse und Empfehlungen sind hier zusammengefasst:
- Open Source leistet einen erheblichen Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) der EU und weist ein Kosten-Nutzen-Verhältnis von mindestens 1:4 aus.
Rund 1 Mrd. €, die Unternehmen in der EU 2018 in Open Source investiert haben, führten zu einem wirtschaftlichen Mehrwert von 65 – 95 Mrd. €. Berücksichtigt man die Hardware- und sonstigen Kapitalkosten der ca. 260.000 EU-Beitragenden zu Open Source Software, so liegt das Kosten-Nutzen-Verhältnis immer noch bei etwas über 1:4. Der so geschaffene Pool an Open-Source-Software steht der Allgemeinheit zur Verfügung, muss also von Unternehmen, Organisationen oder staatlichen Institutionen nicht erneut entwickelt werden. Die allgemeine Verfügbarkeit und die durch das Mehr-Augen-Prinzip hohe Qualität dieser Technologien erleichtert insbesondere Start-ups und KMU den Markteintritt bzw. die digitale Transformation. Für die mittelständisch geprägte Wirtschaft in Deutschland hat Open Source somit das Potenzial, zum Treibstoff für einen innovationsgeprägten Strukturwandel hin zu einer digitalisierten Wirtschaft zu werden. - Mehr Open-Source-Beiträge würden das Bruttoinlandsprodukt der EU signifikant wachsen lassen und zu mehr Gründungen von Start-ups beitragen.
Insgesamt haben rund 8 % der fast 3,1 Millionen EU-Beschäftigten im Bereich der Softwareentwicklung zu Open Source beigetragen (2018). Eine Erhöhung der Open-Source-Beiträge um nur 10 % würde laut der Studie zu einem Wachstum des Bruttoinlandsproduktes um ca. 5 % und zu mehr als 600 zusätzlichen Start-ups pro Jahr in der EU führen. - Open Source fördert hohe Softwareentwicklungsfähigkeiten.
Die Studie stellt fest, dass in den Ländern, die heute über hohe Softwareentwicklungsfähigkeiten verfügen (z.B. Südkorea und China), die industriepolitische Förderung von Open Source eine wichtige Rolle gespielt hat. Erzielt wurde dieser Erfolg mit wirtschaftlichen Anreizen, die mit Open Source verbunden sind. - Die Mitwirkung an Open Source kann die Folgen des Fachkräftemangels mildern.
Die Mitwirkung in Open-Source-Projekten kann es Unternehmen und Organisationen erleichtern, die Fähigkeiten ihres Personals kontinuierlich up-to-date zu halten und Mitarbeitende durch ein reicheres, vielseitigeres Tätigkeitsspektrums zu binden. Unternehmen profitieren somit nicht nur direkt, sondern auch indirekt von der Mitwirkung in Open Source Communities. - Der durch Open Source geschaffene Wert übersteigt bei weitem den Umfang der institutionellen Kapazitäten Europas.
In der EU sind es vor allem Beschäftigte kleiner und kleinster Unternehmen, die Open-Source-Software-Code beisteuern, während in den USA Beiträge vor allem von großen Unternehmen der Informations- und Kommunikationstechnik stammen. Sie stützen ihre jeweiligen Geschäftsmodelle erfolgreich auf den großen Bestand an frei verfügbarem und ständig verbessertem Open-Source-Software-Code. Die Entwicklung der institutionellen Kapazitäten Europas in Bezug auf Open Source birgt somit enormes Potenzial für die wirtschaftliche Entwicklung europäischer Unternehmen und Institutionen. - Open-Source-Software senkt die Gesamtbetriebskosten auch im öffentlichen Sektor.
Die Beschaffung von Open-Source-Software anstelle von proprietärer Software im öffentlichen Sektor würde die Gesamtkosten von IT (total cost of ownership) signifikant senken, zudem die Abhängigkeiten von einzelnen Anbietern („vendor lock-in“) beseitigen und somit die digitale Souveränität stärken. Hohe Wirkung wurde der Studie zufolge dort erzielt, wo Open Source zu einer Kernkomponente des digitalen Wandels wurde und somit in der digitalen Kultur der Verwaltung verankert ist. - Stiftungen sind eine wichtige Triebkraft zur Entwicklung von Open-Source-Ökosystemen.
Open-Source-Stiftungen erbringen eine Reihe wichtiger Dienstleistungen wie etwa Standardisierung, Wissenstransfer oder die Koordinierung und Kuratierung großer Open-Source-Projekte sowie die Pflege und Entwicklung der jeweiligen Communites. Unternehmen beteiligen sich an Stiftungen, um sich stärker in die Open-Source-Software- und Hardware-Community einzubringen, und zwar nicht nur als Konsumenten von Technologie, sondern auch als wichtige Mitwirkende.
Aufbauend auf diesen Erkenntnissen sind wesentliche Politikempfehlungen der Studie:
Einen digital souveränen öffentlichen Sektor schaffen durch:
- Stärkere Berücksichtigung von Open Source im öffentlichen Beschaffungswesen; dabei sollten die Bedürfnisse von Open-Source-basierten KMU berücksichtigt werden.
- Integration von Open Source und Community Building in die Forschungs-, Wirtschafts- und Innovationspolitik
- Finanzielle Förderung von Open-Source-Software- und -Hardware-Stiftungen, z. B. für ihre Bildungsprogramme und für die Zusammenarbeit mit Unternehmen, insbesondere mit KMU und Start-ups
- Einbindung von Open-Source-Stiftungen in Forschungs- und Innovationsprogramme
- Bei künftigen Reformen der Urheberrechts- und Patentgesetzgebung sollte Open Source besser berücksichtigt werden.
Offene Forschung und Entwicklung ermöglicht europäisches Wachstum: Open Source in Forschung, Bildung und Qualifizierung fördern.
- Mehr Fördermittel für Forschung und Entwicklung im Bereich Open-Source-Software und Open-Source-Hardware in bestehende Programme wie z.B. Horizon Europe
- Open Source sollte neben Standardisierungsanstrengungen als wesentlicher Bestandteil von Wissens- und Technologietransfer gefördert werden, z.B. als explizite Transferanforderung für öffentlich geförderte Programme.
- Schaffung wirksamer Anreize für das Veröffentlichen von Code, der in öffentlich finanzierten Forschungs- und Entwicklungs-Projekten entstanden ist, in öffentlich zugängliche EU-basierte Open-Source-Repositorien
- Unterstützung der Entwicklung und Pflege von Plattformen und Repositorien sowie von in der EU angesiedelten Netzwerken
- Hochschulen sollten unternehmerische Fähigkeiten vermitteln, die Open-Source-basierte Neugründungen erleichtern, z. B. in den verschiedenen Master-Programmen in den Wirtschaftswissenschaften sowie in Informatik-, Computer- und Data-Science-Studiengängen. Schaffung von Anreizen für Hochschulen, öffentlich finanzierte Forschungseinrichtungen sowie Management- und Wirtschaftsschulen, um spezielle Managementkurse mit Open-Source-Schwerpunkt anzubieten, z.B. als Mini-MBAs.
Integration von Open Source in die Wirtschaftspolitik: Eine digitalisierte und international wettbewerbsfähige Industrie fördern.
- Open Source sollte explizit in der Wirtschaftspolitik berücksichtigt werden, z.B. in Bezug auf die spezifische Governance von Open Source Communities.
- Open Source sollte ausdrücklich in der KMU-Politik berücksichtigt werden.
- Neue Förderprogramme für Open Source, die insbesondere auf KMU sowie Start-ups, Kleinstunternehmen und einzelne Entwickler abzielen
- Open-Source-Beiträge von Einzelpersonen und Unternehmen, die einen Nutzen für die Allgemeinheit schaffen, sollten steuerlich als gemeinnützig anerkannt werden.
- Der Mangel an Risikokapital im europäischen Ökosystem für Kleinunternehmen sollte behoben werden; dabei sollten insbesondere auch Open-Source-Start-ups darin unterstützt werden, mit etablierten Unternehmen zusammenarbeiten zu können.
- Soweit rechtliche Rahmenbedingungen die Nutzung und Entwicklung von Open-Source-Software und -Hardware behindern (z. B. haftungsrechtliche Fragen für individuelle Entwickler), sollten diese beseitigt werden.
- Das Potenzial von Open Source, wesentliche Fortschritte bei der Nachhaltigkeit von Informationstechnik zu erzielen, sollte durch entsprechende Förder- und Anreizsysteme systematisch erschlossen werden.
Deutschland hat enormen Nachholbedarf
Die Studie stellt auch fest, dass es in Deutschland im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern bislang keine konsistente, gemeinsame Politik und Strategie der Akteure in Bund, Ländern und Gemeinden in Bezug auf Open Source gibt, obgleich das Ziel digitaler Souveränität in den letzten Jahren den Anstoß zu einer Reihe von Maßnahmen, darunter auch Initiativen zur Stärkung von Open Source, gegeben hat.
Es fehlt jedoch eine übergreifende Rahmensetzung für die öffentliche Beschaffung sowie an generellen Maßgaben für die interne Entwicklung und Nutzung von Open Source im öffentlichen Sektor und als wirtschaftspolitisches Instrument zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und der Innovationskraft der deutschen Unternehmen. Einzelmaßnahmen sind nicht hinreichend koordiniert und erzielen somit wenig Effekt.
Das Potenzial öffentlicher Beschaffungen zur Stärkung von Open Source bleibt weitestgehend ungenutzt und lässt in der Ausgestaltung, z. B. bei der Bereitstellung von Vertragsmustern wie den „EVB-IT“-Vorlagen oder das vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) geprägte Erfordernis von Support-Verträgen beim Kauf von Software, die Besonderheiten von Open Source außer Acht und erschwert daher deren Markteintritt.
In der Wirtschaftspolitik gibt es der Studie zufolge zwar eine Vielzahl an Förderprogrammen mit dem Ziel der technologiegetriebenen Entwicklung insbesondere von KMU, jedoch ist in den beiden bedeutendsten Programmen, dem „Zentralen Innovationsprogramm Mittelstand“ (ZIM) des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie sowie dem „KMU-innovativ“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung das Potenzial von Open Source überhaupt nicht repräsentiert. Vor allem wird nicht erkannt, dass Open Source als ein kollaboratives Instrument zur Entwicklung von modularen Lösungen hervorragend in die Struktur der deutschen Unternehmenslandschaft passt und darüber hinaus besonders geeignet ist, den bestehenden Mangel an digitaler Kompetenz im Zuge der Wirtschaftsförderung zu beheben.
Nennenswerte Initiativen auf Bundesebene wie die Beteiligung an Gaia-X oder auf Länderebene wie das Projekt „Phoenix“ von Dataport (dem IT-Dienstleister von sechs Bundesländern) sind laut der Studie zwar ein Fortschritt, wenn sie konsequent auf offene Technologien setzen, reichen jedoch noch nicht aus, um einen spürbaren Wandel zu bewirken.
Die Notwendigkeit der Koordination und einer gesamthaften Strategie wird auch im kommunalen Bereich deutlich, wo eine Reihe von Kommunen zwar Open-Source-Lösungen implementieren bzw. anstreben und sich beispielsweise der kommunale IT-Dienstleister Vitako um gemeinsame, von allen verwendbare Lösungen bemüht. Es wird auf eine Studie des Beauftragten der Bundesregierung für Informationstechnik (2020) verwiesen, wonach Kommunen jedoch in ihren Beschaffungsentscheidungen durch die gegenwärtigen vergaberechtlichen Bestimmungen eingeschränkt seien.
Dr. Manuela Urban, Dezember 2021
Manuela Urban ist COO des Projekts “Sovereign Cloud Stack” (SCS) der OSB Alliance. Mit dem Projekt SCS wird die OSB Alliance seit Mitte 2021 durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie gefördert, um einen Open-Source-basierten, vollständig offenen, föderierbaren Infrastruktur-Stack für das europäische Vorhaben Gaia-X zu entwickeln. Das Projekt ist ein Beitrag zur Verwirklichung der “Digitalen Strategie 2025” der Bundesregierung.