Gastbeitrag von Rafael Laguna de la Vera, Vorstand Open-Xchange AG

 

 

Zu besichtigen war dieses Phänomen jüngst in dieser Woche wieder bei Tim Berners-Lee, genauer gesagt: Sir Timothy John Berners-Lee, dem „Erfinder des Internet“, wie so mancher knapp und plakativ und falsch seine Lebensleistung zusammenfasst. Seine Verdienste beim Aufbau des World Wide Web sind unbestritten. Und doch ist sein Beitrag, das Hypertext Transfer Protocol (HTTP), nur einer von vielen, vielen Bausteinen dieser – Internet genannten – zweifelsohne größten Erfindung der letzten 50 Jahre.

Google, Facebook und Cloudflare gehören zu den Mitunterzeichnern des Aufrufs

Entsprechend schwer wiegt Sir Tims Wort, wenn er es wie Anfang dieser Woche auf der Konferenz Websummit in Lissabon erhebt. Er macht sich Sorgen um seine Erfindung und sieht das „Netz an einem kritischen Punkt“. „Diejenigen von uns, die online sind, sehen, dass unsere Rechte und unsere Freiheit in Gefahr sind“, schreibt er in seinem Aufruf und fordert einen „new Contract for the Web“ mit klaren und robusten Zuständigkeiten für diejenigen, die die Macht haben, das Internet besser zu machen. So weit, so gut, so richtig.

Neben der französischen Regierung und einigen NGO gehören die Internet-Unternehmen Google, Facebook und Cloudflare zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs, den die Presse schon zur „Magna Carta für das Internet“ erhöhte. Und spätestens hier müssten nach meinem Dafürhalten bei jedermann und jederfrau die Alarmglocken schrillen.

Wie kann es Tim Berners-Lee zulassen, dass Google und Facebook  sich gemeinsam mit ihm hinter Sätzen versammeln wie „Companies will respect consumers privacy and personal data, so people are in control of their lives online“, wo doch deren Geschäftsmodelle darauf basieren, die Privatsphäre und die Datensouveränität der Anwender massiv zu untergraben?

Initiative hat Kraft und Glaubwürdigkeit verspielt

In meinen Augen hat die Initiative damit bereits zum Auftakt viel von ihrer Kraft und Glaubwürdigkeit verspielt und fühlt sich an wie ein Dieselgipfel mit der Autoindustrie. Oder wie ein Klimaschutzpakt mit dem Bundesverband Braunkohle oder das neckisch betitelte „Privacy Shield“ der EU, das davon nun rein gar nichts erreicht. Dabei ist noch nicht eingepreist, dass Google und Facebook zu den größten Spendern der World Wide Web Foundation gehören, die hinter dem Aufruf von Berners-Lee steht.

Entsprechend zweifle ich, dass die Initiative von Erfolg gekrönt sein wird – dem positiven globalen Medienecho zum Trotz. Dennoch gibt es ein paar Gewinner bei dieser Aktion: Google und Facebook. Einmal mehr ist es ihnen gelungen, sich der Weltöffentlichkeit in positivem Licht zu präsentieren, als verantwortungsvolle Unternehmen, die nur das Kundenwohl im Auge haben.

Im Umgang mit den Datenmonopolisten aus dem Silicon Valley halte ich es mehr mit Margrethe Vestager, der EU-Kommissarin für Wettbewerb: Weniger „freiwillige Selbstverpflichtung“ und dafür klare, europaweit gültige Regelungen zum Schutz der Verbraucher wie die Datenschutzgrundverordnung, die mit empfindlichen Strafen hinterlegt sind.

Open-Source-Netzwerkprotokolle sind Basis des offenen Netzes

Und auch die europäische Internet- und Softwareindustrie – ja, die gibt es – hat (noch) die Macht und Mittel, um sich im Sinne Berners-Lees um ein „offenes Internet“ verdient zu machen. Der Schlüssel dazu liegt in den Anfängen des Internets in den 60er und 70er Jahren. Damals definierten die Väter des Internets die Netzwerkprotokolle, die die Basis für die Netzkommunikation im Internet bilden. Die Implementierungen dieser Protokolle sind kostenlos und für jedermann nutzbar, da sie in der Regel unter einer Open-Source-Lizenz stehen. Dass auch der menschengeschriebene Quellcode der Software öffentlich zugänglich ist, sorgt für Transparenz, Sicherheit und Vertrauen. Die offenen Protokolle waren Voraussetzung für den Aufbau eines einheitlichen, globalen Internets in Rekordzeit. Ohne diese offenen Protokolle würden wir heute in digitaler Kleinstaaterei darben.

Um den Traum von Tim Berners-Lee vom offenen Internet – der auch meiner ist – Wirklichkeit werden zu lassen, gilt es die Datensilos – die Facebook, Google und Microsoft auf der Applikationsebene errichtet haben – durch offene, föderierte Dienste zu ersetzen. Ein Beispiel: Whatsapp ist ein geschlossener Instant-Messaging-Dienst. Wer mit einem Whatsapp-Nutzer chatten will, braucht ebenfalls einen Whatsapp-Account und die App. Ein offenes, föderiertes Chat-Protokoll würde es ermöglichen, dass Nutzer mit ihren Chat-Accounts, die sie bei unterschiedlichen Serviceprovidern betreiben, miteinander in Kontakt treten und kommunizieren können. Falls sie mit dem Service eines Providers nicht mehr zufrieden sind, können sie mit ihrem Account – wie mit Telefonnummer und E-Mail-Adresse auch – zu einem anderen Anbieter wechseln.

Ist das reine Fantasterei angesichts der Marktmacht des Silicon Valley und des Netzwerkeffektes ihrer geschlossenen Anwendungen? Mitnichten!

Entscheidend für den Erfolg dieser Idee sind für mich Europas Internet-, Kabel- und Telekommunikationsanbieter. Im Moment laufen sie Gefahr, zu einem austauschbaren Lieferanten zu werden, der die Internet-Infrastruktur bereitstellt – vergleichbar mit DHL, Hermes und UPS, die die Amazon-Pakete ins Haus bringen.

Offene Internet gegen geschlossene Filterblasen

Europas Internet-Service-Provider haben mitunter jahrzehntelange Beziehungen zu mehr als 500 Millionen Kunden und wurden allesamt von der Schnelligkeit und Wucht überrascht, mit der die Entwicklungen aus dem Silicon Valley – allen voran das Smartphone mit seinen Anwendungen – zu einem integralen Bestandteil im Leben der Nutzer wurden. Es gibt erste Anzeichen, dass sie langsam ihre Ehrfurcht vor dem Silicon Valley ablegen und sich darauf besinnen, den Kampf um die Herzen und Köpfe der Kunden aufzunehmen, mit attraktiven Diensten, welche das Recht auf Privatsphäre und den Schutz der persönlichen Daten respektieren.

Ich bleibe aus zwei Gründen zuversichtlich. Zum einen, weil wir weiterhin eine enorme Innovationsgeschwindigkeit im Bereich der digitalen Dienste haben. Viele der Dienste, die wir heute nutzen, werden in einigen Jahren disruptiert und abgelöst sein. Techniken wie Machine Learning und KI stehen ja erst am Anfang, doch ist schon heute absehbar, dass sie die Basis für attraktive Dienste bilden werden. Und zum anderen nährt der Blick in die Vergangenheit die Hoffnung, dass Monopolisten – denn darum handelt es sich bei Google, Facebook, Apple, Amazon und Microsoft – dazu tendieren, satt und träge zu werden und neue Innovationssprünge zu verschlafen.

Ob sich am Ende das offene Internet, getragen von Politik und mündigen Verbrauchern, durchsetzt oder ob wir als Lemminge in den geschlossenen Filterblasen amerikanischer und bald auch chinesischer Digitalkonzerne vegetieren werden, wird die Zukunft zeigen.

*Gastbeitrag von Rafael Laguna de la Vera, Vorstand Open-Xchange AG